17
Sep
2005

Ein spiritueller Flanger

non18

Die Vorgeschichte dieses Plattenkaufs ist mal wieder ein Beispiel dafür, wie schizophren die Shopping-Welt des Internets doch ist. Während auf den dicken fetten Corporate Sites gephisht und gestohlen wird, dass sich die Balken biegen, und in Zeiten, in denen an jeder Ecke einer steht, der mit warnendem Finger den Leuten sagt, dass sie beim Einkauf im Internet Haus, Hof und Hund verlieren können, nutzen andere auf einfachste, sympathischste und effektivste Weise die Vorteile dieser eigentlich ja wirklich völlig ungefährlichen Plattform.

Beispiel: Nonplace, das Label von Burnt Friedman. Bringt ne neue Platte raus, teilt das der Welt auf seiner Website mit, du klickst auf den Link zum Label-Shop, und findest alles was du brauchst - nämlich eine Liste aller verfügbaren Tonträger, die dazugehörigen Preise, und eine E-Mail Adresse. Du schreibst deine Will-ich-haben-Mail, bekommst sofort eine Antwort mit den Kontodaten, du überweist, und wenn dabei überhaupt etwas schief gehen kann, dann höchstens die Sache mit dem Postboten, aber dafür kann der Herr Friedman ja nichts.

Erfahrene Internet Shopper wenden ein, dass du dann aber das Porto nur für eine einzige Platte bezahlst, die dadurch dann richtig teuer wird. Ja, bei einem Internet Shop schon, beim Label eben nicht. Denn auch wenn das Porto mit sechs Euro nicht gerade knapp bemessen ist - die Platte kostet beim Label nur 10 Euro (logisch, da muss ja nicht noch irgend eine Provision bezahlt werden, der Händler und der Transport, und all der Kram). Und so zahle ich am Ende mit Sicherheit nicht mehr als das, was ich zahlen würde, wenn der Laden um die Ecke zufällig noch ein Exemplar für mich übrig hätte.

Also allein schon wegen der Vorgeschichte kann man dem dann glücklicherweise unversehrt und unverzüglich zugestellten Tonträger gegenüber sehr wohlwollend eingestellt sein.

Nicht dass der das bräuchte - flauen Kram gibt es auf dem Label ohnehin nicht. Schwer hat es das neue Flanger Album nur im eigentlich unfairen Vergleich mit dem, was Nonplace kurz vorher veröffentlichte, nämlich der wunderbaren "Out In The Sticks" EP von Friedman, Liebezeit und Sylvian.

Aber der Vergleich ist eigentlich ganz hilfreich. Denn jetzt, da Friedman und Atom ihr Projekt von der britischen Insel in die deutsche Heimat verpflanzt haben, muss man wohl von einer Art Neustart sprechen (als den man das Album auch musikalisch und vor allem konzeptionell bezeichnen kann), und so ist das Friedman-Liebezeit-Projekt schon in Phase 2, wo Flanger in der Nonplace Welt gerade erst anfängt.

Und da ist sie dann auch, die Parallele - denn Friedman/Liebezeit hatten auf ihrem ersten Album noch ein wenig herumprobiert, waren noch nicht wirklich fertig, und füllten das Album auch mit einem Eigen-Remix. Es gab sehr schöne Momente, aber der Zusammenhalt fehlte noch ein wenig.

Genau das ist es auch, was man von Flangers "Spirituals" sagen kann. Ein Album mit schönen Momenten: Der erste kommt schon am Anfang, und der ist schon ein wenig makaber, denn es geht gleich mit einem "Funeral March" los. Einen Moment lang flackert vor meinem geistigen Auge die Eröffnung von "Leben und sterben lassen", dem Bond Film, in dem eine Trauergemeinde durch die Straßen von New Orleans schreitet, begleitet von einer Kapelle, die einen ultralangsamen Trauermarsch spielt (Ich glaube es ist der Kollege vom alten Bond, der noch fragt, wer da begraben wird, und dann als Antwort ein Messer zwischen die Rippen bekommt. Es ist sein eigenes.)

Flangers Begräbnismarsch ist in etwa halb so schnell. Der bewegt sich schon fast gar nicht mehr. Konsequenterweise werden die Blasinstrumente auch mehr gepustet als gespielt, denn wenn die Musik so langsam ist, muss man auch langsam pusten, und dann kommt halt der Ton mit Verzögerung - das ist für einen Klarinettespieler sicher völliger Blödsinn, aber für den, der das hört, höchst logisch und passend.

Das Bild vom Trauermarsch verschwindet dann aber auch recht bald, denn irgendwie mischt sich in diese morbide Zeitlupe etwas, das eindeutig nach Striplokal riecht. Als ob der Trauermarsch irgendwo links abbiegt und zum Leichenschmaus nicht im Cajun Restaurant, sondern in einer alt eingesessenen Bar landet, die nebst 20er Jahre Einrichtung auch noch die klassische laszive Auszieh-Musik spielt.

Dass direkt danach die etwas verwunderlicheren und vielleicht auch nicht ganz so ausgereiften Momente des Albums kommen, mag auch daran liegen, dass Friedman und Atom dem Flanger-Kenner etwas servieren, das vorher irgendwie nicht denkbar war: Gesang. Sicher, das Album ist eine Art Themenalbum, es heißt ja auch "Spirituals" und ist nicht nur beim Begräbnismarsch in New Orleans der 20er zu Hause, und auch damals wurde viel gesungen - also liegt es nahe, auch auf diesem Album singen zu lassen.

Man könnte fast auch ein wenig das Gefühl haben, Friedman und Schmidt (so heißt der Herr Atom, wenn er sich nicht Senor Coconut nennt) wären ein wenig des Umstandes überdrüssig, bei Konzerten immer nur auf der Bühne an ihren Kisten sitzen und ihr Zeug zu machen, ohne sich auf musikalischem Wege direkt ans Publikum wenden zu können.

Wie auch immer - mit dem Gesang auf diesem Album öffnet sich die Musik der beiden dem Zuhörer so viel mehr als bisher, dass man fast schon einen Schreck bekommt. Kann sein, dass der Ersthörer, der die drei Ninja Tune Alben nicht kennt, damit besser umgehen kann - für den "Erfahrenen" ist das, was der Vokalist vom Dienst, Riff Pike III, ziemlich gewöhnungsbedürftig. Denn wo man unter Umständen auf die Idee kommen könnte, dass bei dieser Musik eine bassstimmenartige Satchmo-Variante singen sollte, kommt eine sehr helle, um Betonung bemühte Stimme daher, die in dieser an lange Historie anknüpfenden Musik fast ein wenig greenhornig wirkt. Damit muss man sich erst mal anfreunden.

Aber dann kommen schon wieder die schönen Momente, die flotten hüpfenden, schnuckenackigen Gitarrenfreuden, unschuldig fröhliche shuffelige Schlagzeugrhythmen, die einen nicht minder fröhlich wippen lassen und immer ganz behutsam von kleinen atomaren elektronischen Spielereien begleitet werden.

Noch ein Highlight: "Peninsula", ein liebevolles, stilvolles Dixieland-Kleinod, bei dem ich mich spontan daran erinnere, dass meine Mutter diese Musik immer als Knackwurstmusik bezeichnet hat, durchaus wohlmeinend, und das habe ich irgendwie auch damals als kleines Würstchen in den richtigen Hals bekommen, eine Knackwurst ist an sich und als Wort im besten Sinne lustig, und das ist auch "Peninsula".

Gegen Ende des Albums werden dann wieder die Vergleiche zum ersten Friedman/Liebezeit Album evident - drei der bereits gehörten Stücke werden noch einmal in alternativen Versionen serviert.

Kann sein, dass das ein Punkt ist, an dem man sich entscheiden muss, ob das Glas halb leer oder halb voll ist, also ob die drei letzten Stücke das eigentliche Konzept des Albums stören, das nach neun Stücken durchaus rund war - oder ob das Album eigentlich nach der Neun zu Ende ist und die drei Varianten so etwas wie Bonusmaterial sind, über das man sich freuen kann.

Hört man das Album in einem Rutsch durch, neigt man zu ersterem, betrachtet man es mit ein wenig Distanz, wird letzteres offensichtlich.

In jedem Fall dürfen wir den Herren Friedman und Schmidt dankbar sein, denn immer wieder bereichern sie den Musikbetrieb mit Kostbarkeiten, die einem das Leben als hörfreudiger Mensch schöner machen.

"Spirituals" hat nicht die konzeptionelle Kraft von Uwe Schmidts Senor Coconut Projekt, und nicht die emotionale Tiefe von Friedmans Kooperationen mit Jaki Liebezeit, aber Spaß macht es in jedem Fall, ganz sicher auch, wenn das Ganze auf die Bühne gebracht wird. Da freu ich mich drauf.

FLANGER - SPIRITUALS - Label: Nonplace - NON18

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